Bussi, Baby! Ausfahrt mit dem Steyr 55 Baby

10. November 2017
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In den Dreißigerjahren erobert ein kleiner Oberösterreicher die Herzen seiner Heimat. Nein, der ist nicht gemeint. Der Steyr 50 war ein friedlicher, sympathischer, durch und durch rotweißroter Mobilmacher. Der letzte, der das von sich sagen kann – Karosserie und Motor waren waschechte Österreicher, da muss sich auch der über zwanzig Jahre später erfolgreiche Beute-Turiner von Puch hinten anstellen. Das Baby kam nicht unbedingt in den sonnigsten Tagen dieses Landes zur Welt. 1936 haben die Menschen noch Weltwirtschaftskrise und Bürgerkrieg in den Knochen. Die Demokratie ist bis auf weiteres beurlaubt und das Nachbarland bereits massiv gebräunt, mit stärker werdender Streuwirkung über die Grenze.

Als Vater darf sich Steyr-Chefkonstrukteur Karl Jenschke in die Geburtsurkunde eintragen. 1931 beerbt er in diesem Job seinen bisherigen Vorgesetzten Ferdinand Porsche – was die beiden sonst verbindet, ist ihr Faible für den Boxermotor. Die Steyr-Werke sind damals vor allem ab der gehobenen Mittelklasse aufwärts gut aufgestellt. Die unter Jenschkes Dienstzeit fallenden Modelle 30, 40, 430 und 530 bewegen die besser verdienenden Österreicher und finden auch im betuchten Ausland Käufer. Allerdings kaum in Deutschland – die innige politische Abneigung der beiden nichtdemokratischen Nachbarn manifestiert sich unter anderem in fantastischen Zöllen, die sie gegenseitig einheben. Die insgesamt wirtschaftlich eher klamme Lage schafft jedenfalls Bedarf für ein kleines, leistbares und nicht zuletzt auch sparsames Automobil. Andere würden so etwas einen Volkswagen nennen.

Von den 13.000 gebauten Steyr Babys hat nur eine Handvoll überlebt. Auch Kleinwagen waren am Ende des Krieges ein beliebtes Souvenir. Wer zu Fuß ein Reich erobern muss, schaut wenigstens, dass er fahrend heimkommt.

Von den 13.000 gebauten Steyr Babys hat nur eine Handvoll überlebt. Auch Kleinwagen waren am Ende des Krieges ein beliebtes Souvenir. Wer zu Fuß ein Reich erobern muss, schaut wenigstens, dass er fahrend heimkommt.

 

Jenschke wählt für die Konstruktion eine selbsttragende Stahlkarosserie, was damals noch absolut keine Selbstverständlichkeit ist – als Standardkonzept gilt noch der Leiterrahmen. Beim Motor entscheidet er sich natürlich für einen kompakten Boxer: ein ganzer Liter Hubraum, verteilt auf vier Zylinder, stehende Ventile, 22 PS Leistung. Mit dem 1938er-Update auf den Steyr 55 werden daraus 1,2 Liter mit 25,5 PS – in den Leistungsregionen zählen auch halbe Pferde. Sein Flieger-Hobby soufliert Jenschke beim Gesamtkonzept – der Steyr-Nachwuchs wird eines der ersten Serienfahrzeuge mit Stromlinienform. Ja, auch ein kleiner, etwas dicklicher Tropfen ist eine Art von Stromlinie. Die bündig am Fahrzeugkörper sitzenden Kotflügel und die integrierten Scheinwerfer sind damals schon eine mittlere Sensation. Um auch dem Kleinen die gewohnte Steyr-Qualität einzuimpfen, wird er in den unwirtlichsten Gegenden des Planeten auf Herz und Nieren getestet: in den Wüsten Afrikas und… am Katschberg – dessen 32 Grad Steigung gelten damals als automobilistische Prüfung erster Güte, hier werden Buben zu Männern und umgekehrt. Dass sich der kleine Steyr als standfester Bergfex erweist, ist keine Selbstverständlichkeit – auf den Alpenstraßen dieser Zeit gehen sogar Sterne unter. Obacht im Gebrauch war freilich immer angesagt, also ein Auge an der Temperatur-Anzeige.

Der oberhalb des Motors sitzende Thermosyphon-Kühler ist die denkbar simpelste Lösung, weil er ohne Wasserpumpe auskommt – das heiße und wieder abgekühlte Kühlmittel folgt einfach seinem natürlichen Drang zum Steigen und Fallen. Auch sonst sind kompakte Ansätze gefragt: Starter und Lichtmaschine sind platzsparend in einem Bauteil kombiniert und treiben den Kühlerventilator gleich mit an, der Motor kann vor die Vorderachse rücken und lässt dahinter viel Raum für die Passagiere. Vorausgesetzt man respektiert, dass es generell eine weniger anspruchsvolle Zeit war – auch was den Platzbedarf von Menschen angeht. Zu viert wird es im Steyr Baby nach heutigem Verständnis also recht kuschelig.

 

Das Kennenlernen des vom Oldie-Point Jüly in Bruck/Leitha beigesteuerten, inzwischen gut 80 Jahre alten Babys birgt einige Überraschungen: Wer sonst eher Klassikern der 60er und 70er Jahre zugetan ist, nimmt besser zur Kenntnis, dass der Steyr zu deren Zeit selbst schon ein Oldie war. Also: nix einsteigen, Rollgurt anlegen, Schlüsselumdrehen, ein bisserl Gas vielleicht, kuppeln, Gang einlegen und losfah­ren. Alles anders, schisteliger, unpraktischer, in Summe viel schöner. Es beginnt schon beim Türöffnen. Hinten angeschlagen und pragmatisch Selbstmörder-Tür genannt – obwohl es eher die Patscherten waren, die ihr zum Opfer gefallen sind, als die Todeswilligen. Pedal-Anordnung, Schalter und Instrumente entsprechen schon in etwa unserer Bedienlogik. Wieviel Aufwand und Detailverliebtheit selbst in jedem Instrument, den Beschriftungen und Zeigern oder den Hebeln und Verschlüssen steckt, verlangt schon Achtung ab – von einem vermeintlichen Sparmodell hat das Baby rein gar nichts an sich.

Das Starten ist eine liebevolle Handlung, etwa die oberösterreichische Version einer Teezeremonie: Strom anstellen, Choker ziehen, Startknopf mit dem Fuß bedienen, die Starter/Lichtmaschinen-Kombi dreht den Motor über einen Riemen, sehr leise, sehr komfortabel. Irgendwann springt er tatsächlich an, nuckelt ein bisserl unschlüs­sig dahin, die richtige Mischung aus Choker und Gasgeben motiviert ihn schließlich ausreichend. Kuppeln wie gewohnt, Gang suchen, irgendwo im Getriebe-Universum, das der Radius des Schaltknüppels beschreibt. Wer ihn findet, der hört auch gleich seinen mechanischen Gruß, wie es sich halt für Schaltbox der alten Schule gehört. Nur beim Anfahren will das Baby Drehzahl, danach erledigt der Boxer alles mit büffeliger Selbstverständlichkeit. Beim Hochschalten ist Zwischengas gefragt, nur Dreier und Vierer sind synchronisiert – warum nur die, weiß niemand. Wer jetzt glaubt, er ist der King, weil er die kleine Multitasking-Anforderung von Schalten und Gasgeben bei seinem chronisch getriebe-maroden Alfa eh wie im Schlaf beherrscht – weit gefehlt. Das Baby braucht eine sehr viel feinfühligere Sohle und ein sehr geduldiges und bewegliches Handgelenk.

Mit so erlernter Hand- und Fußfertigkeit geht es schließlich unaufgeregt vorwärts, entspannt wird der Fahrer dabei gleich mit. Der Motor schnarrt sich eins und qualmt wie Helmut Schmidt seelig, das Mitverheizen von ein Liter Öl auf 500 Kilometer gilt damals als äußerst sparsam. Die Dynamik entspricht etwa der einer Wanderdüne, was aber völlig OK ist – anders wäre es unpassend. Der Steyr ist Teil einer sach­teren Zeitphase, das Un-Wort Entschleunigung lassen wir trotzdem aus. Schon, weil es die Beschleunigung als Gegengewicht bräuchte – und deren Bedeutung entgleitet uns immer mehr, je länger wir unterwegs sind. Die Lenkung ist unerwartet direkt, Kurven nimmt der kleine Steyr mit Bravour, die Pendelachse hängst sich selbst unter geringer Last sauber rein.

Gut geplant will das Vorhaben sein, anzuhalten. Vier über Seilzug betätigte Bremsen waren damals schon eine heiße Sache, und für den Verkehr der späten Dreißiger Jahre hat’s zweifellos gereicht. Heute ist mit dem Equipment eine eher defensive Fahrkultur gefragt. In der Praxis lernt man, auch die Horizonte der Querstraßen im Auge zu behalten. Warnhinweis: Objekte im Augenwinkel sind schneller da, als sie scheinen. Was die Freude an den zahllosen sympathischen Details des Babys nicht schmälert: Die holzbewandeten Staufächer, die industrie-romantische Verzahnung an der Handbremse, die Mechanik, mit der sich die Rückbank umhebeln lässt, das Heckfenster, Modell Panzerspähwagen, das von außen zugängliche Abteil, in dem das Reserverad residiert, die ledernen Türfangbänder, das herrliche Stahlschiebedach mit dem Art Deco-Verschluss.

 

1940 rempelt die triste Realität den Typ 55 von seinem Erfolgskurs: Die Produktion muss zugunsten der Fertigung von Kriegsmaterial eingestellt werden. In diesem trüben Licht liest sich auch der Verkaufsprospekt gleich anders: Der kleine Steyr sei der Wagen für Beruf, Reise, Sport – und Gesundheit! Das Steyr-Marketing, das damals wohl noch Reklame-Abteilung hieß, erklärt das nicht weiter. Aber der absolut pazifistische Kleinwagen war für alle Beteiligten in jedem Fall gesünder als das, was Steyr nach ihm produzieren musste. Heute wird die Botschaft jeder bestätigen, der in einem Steyr Baby unterwegs ist: Richtig angewendet ist der kleine Oberösterreicher auf alle Fälle heilpädagogisch wertvoll.

B4, 8V, 1 Vergaser Solex 30 FHR, 1158 ccm, 25,5 PS bei 3600 U/min, max. Drehmoment k. A., Viergang-Getriebe, Hinterradantrieb, vorne Einzelradaufhängung mit zwei Querblattfedern und Stoßdämpfern, hinten Pendelachse, Einzelradaufhängung mit querliegender Blattfeder und Stoßdämpfern, Trommelbremsen v/h, L/B/H 3670/1520/1460 mm, Radstand 2250 mm, Spurweite v/h 1250/1250 mm, Wendekreis 10,5 m, Reifendimens. 5.00-16, 4 Sitze, Leergewicht 815 kg, Tankinhalt 29 l, 0–100 km/h nie, weil Spitze 95 km/h, Treibstoffverbrauch ca. 8 l/100 km

  • Bauzeit: 1936–1940 (Typ 55 ab 1938)
  • Lebenslauf: 1936 im Februar Vorstellung des Steyr 50 mit Einliter-Motor und 22 PS; 1938 Präsentation des Steyr 55 mit 1,2 Liter-Motor und 25,5 PS, geänderte Stoßstangen, anderes Felgen-Design, Zweifarbenlackierung, zusätzliche hintere Seitenfenster gegen Aufpreis; 1940: Einstellung der Produktion
  • Stückzahlen: 7800 Steyr 55 und 5200 Steyr 50
  • Neupreis (1938): ca. € 365,–
  • Alternativen: Fiat Topolino, Opel Kadett I, VW Käfer