VW Brezelkäfer schwarz Heckansicht

Glavitzas Gschichtln – Geisterstund am Gaisberg

30. Juni 2020
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Vor sechs Jahrzehnten war die Welt noch in Ordnung. Benzinkrise oder lästige Geschwindigkeitsbeschränkungen noch Lichtjahre entfernt, mein Studienkollege Peter Huber und ich kochten vor Kreativität. Es war an einem linden Freitagabend vor dem Großen Bergpreis am Gaisberg in Salzburg, als wir hoch droben im Café Europa nahe dem Hauptbahnhof auf die Idee kamen, unsere Fahrkünste mit den Werks-Porsche von Edgar Barth und anderen zu messen.

Der Relativitätstheorie folgend, nach der bekanntlich alles relativ ist, beschlossen wir, indem wir die fehlenden PS des etwa zehn Jahre alten Käfers (geteiltes Rückfenster, Rolle am Gaspedal, Seilzugbremse) unter Zuhilfenahme der Schwerkraft auszugleichen versuchten, die Fahrzeit bergab mit jener der Profi-Rennwagen, die üblicherweise bergauf fahren, zu messen. Mitter­nacht wäre die richtige Zeit, weil alle „Schandarmen“ ihre müden Häupter zur Ruhe gelegt hätten.

Die Domuhr hatte die Geisterstunde eingeläutet, als wir den Luftgekühlten den Berg hinauftrieben. Nach kurzem „Enemenemu-und-draußt-bist du“ fiel die Wahl auf mich als ersten Fahrer. „Fertig, los!“, und ich trat voll auf das Gasradl. Die Bremswirkung schwächelte bereits vor der ersten Haarnadelkurve, schon zwischen den Wirtschafts­gebäuden der Zistelalm rief ich in ängstlichem Sopran: „Schas! Eis braimst ned!“ (Übersetzung aus dem Steirischen: „Flatulenz! Es bremst nicht!“). Peter warf sich auf die Handbremse und riss daran, als wollte er die Erddrehung anhalten. Die erhoffte Verzögerung blieb aus – die Feststellbremse war seit Monaten außer Gefecht. Wieso sollte sie auch ausgerechnet jetzt funktionieren?

Mir wurde mit Zunahme der Zeit mehr und mehr unrund zumute – denn ich wusste von der rechten Haarnadelkurve hundert Meter weiter und schrammte das Auto gegen die Böschung. Ohne Wirkung. In höchster Not öffneten wir die Wagentüren und versuchten mit den Schuhsohlen den inzwischen toll gewordenen Wagen zu bremsen! Dieser Versuch einer Verzögerung war nicht einmal lächerlich. Erst ein weiterer Rempler gegen die Böschung hinderte den Käfer daran, nicht wie von einem Schanzentisch hinaus in die stille Nacht über Aigen ins Nichts zu fliegen.

Nach der Haarnadel, am sogenannten „flachen Teil“, waren wir schon wieder obenauf und guter Dinge. Ich gab fest Gas – die Gersbergalm und so weiter schafften wir locker. Richtig ernst wurde es unten vor dem Zielstrich. Dort mündet die Gaisbergstraße in die Bundestraße Salzburg-Fuschl-St.Gilgen-Wolfgangsee. Zum Glück schliefen die Salzburger, wie von Karl Heinrich Waggerl beschrieben, in derbe Nachthemden gehüllt unter rot-weiß-karierten Bettdecken in grob gezim­merten Holzbetten und waren deshalb nicht unterwegs, als der Käfer mit grölendem Motor die Bergstraße herunterdonnerte und nahezu ungebremst in die Bundestraße einbog, die hinteren Räder ob der konstruktiven Großtat einer Pendelachse fast gegeneinander schlagend, und auf dem kurzen Bergaufstück (rechts eine Steckerl­fisch-Bude) der Physik folgend ausrollte.

Als wir schließlich aus dem Wagen kletterten, knisterte dieser vor Hitze zum Dank in die Stille der Nacht hinein. Mit vollen Blasen lässt sich schwer über die spezielle Relativitätstheorie diskutieren – darum entluden wir uns gegen die Brems­trommeln der Vorderräder. Der Hintergedanke war natürlich Kühlung, doch giftweiße und unbeschreiblich stinkende Wolken umhüllten Auto und uns. Peter hatte in der Aufregung vergessen, auf der zur Ziellinie umfunktionierten Startlinie den Sekunden­zeiger anzuhalten – das war aber kein besonderes Ärgernis, denn noch schwer atmend betrachteten wir die Fahrzeit als Nebensache.

Foto: Werk