Jochen Rindt, Frau Pinnebös und der „Kurier“

25. August 2020
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An jenem Nachmittag des 5. September 1970, als Österreichs Motorsportidol Jochen Rindt beim Training in Monza tödlich verunglückte, begannen die Redaktionsmaschinerien der heimischen Zeitungen in Minutenschnelle auf Hochtouren zu laufen.

Nur beim „Kurier“, damals eines der führenden Blätter Österreichs, war von Hektik keine Spur. Das lag auch daran, dass der „Kurier“ als einzige Tageszeitung des Landes keinen Reporter nach Italien zum Grand Prix entsandt hatte. Die meisten Mitarbeiter, es war Samstag, hatten frei, im Verlagshaus in der Lindengasse in Wien döste ein kleines Bereitschaftsteam bei Speckjause und Grünem Veltliner dahin, die meisten Geschichten waren schon Tage vorher verfasst worden, auch weil man die Samstag-Überstunden einsparen wollte.

Meinen Reiseantrag nach Italien zum Formel 1-Rennen, ich war damals Motorsportreporter des Blattes, hatte Eberhard Strohal, Chefredakteur der Zeitung, abgelehnt – und das, obwohl Jochen Rindt in der Weltmeisterschaft führte und Millionen Österreicher dem Grand Prix entgegenfieberten. Strohal, ein politischer Kopf, der mit Motorsport wenig anzufangen wusste, schickte mich auf Urlaub. „Na, so interessant, lieber Kollege, ist das Rennen doch eh nicht“, meinte er gütig, „wissen Sie, was Flug und Hotel kosten würden? Das brauchen wir alles nicht.“ Die Berichte sollten von der Austria-Presseagentur übernommen werden, mehr als ein Dreispalter war ohnedies nicht eingeplant gewesen.

Ich fuhr an dem strahlend sonnigen Samstag mit Freunden zur Alten Donau segeln, gegen 14 Uhr begab ich mich, obwohl eigentlich auf Urlaub, in die Redaktion, weil ich mir vorgenommen hatte, den erwarteten faden Agenturbericht vom Training in Monza umzuschreiben. Als Junger ist man noch ehrgeizig.

Nachdem Hans Christmann, schwergewichtiger Motor-Ressortchef des „Kurier“, am Dienstag vor dem Rennwochenende von der Abwesenheit der Zeitung beim so wichtigen Formel 1-Lauf erfahren hatte, entschied er, nach einer Schimpfkanonade an die Adresse des Chefredakteurs, über alle Köpfe hinweg, dass Peter Urbanek, freiberuflicher Motorjournalist und für die Tageszeitung „Die Presse“ in Monza akkreditiert, für ein Honorar von 300 Schilling auch für den „Kurier“ berichten solle. Intern kommuniziert hat Christmann diese Aktion allerdings nicht. Natürlich wurde auch ich, Jüngster im Team, nicht informiert.

Samstag kurz nach 14.30 Uhr (in Italien war es wegen der im Gegensatz zu Österreich bereits eingeführten Sommerzeit 15.30 Uhr) unterbrachen österreichische Radiosender ihr Programm, in Wien liefen die Menschen auf die Straße: Jochen Rindt tödlich verunglückt! Peter Urbanek ergatterte im Pressebüro in Monza eine der ersten Freileitungen (Direktdurchwahl aus Italien gab es noch keine) und schaffte rasch eine Verbindung in die Sportredaktion des „Kurier“.

Frau Pinnebös, die schnellste Stenotypistin des Hauses, hatte Journaldienst (sie kannte Urbanek natürlich nicht):

„Kurier-Sportredaktion, Pinnebös, wer spricht?“

„Da ist Peter Urbanek. Geben Sie mir bitte den Chef! Jochen Rindt ist tot.“

„Wer ist tot?“

„Jochen Rindt!“

„Ach so. Und wer sind Sie?“

„Peter Urbanek.“

„Sind Sie ein Leser?“

„Ich bin Ihr Reporter, verstehen Sie? Ihr Reporter!“

„Wie heißen Sie?“

„Urbanek!“

„Was machen Sie in Monza?“

„Ich bin Ihr Reporter, geben Sie mir endlich Ihren Chef!“

„Der kommt um drei.“

„Des is ma wurscht, ich geb Ihnen jetzt meinen Bericht durch.“

„Na gut, dann schreib ich halt.“

Der stellvertretende Chefredakteur des „Kurier“, Hermann Stöger, der von Christmann ebenfalls nicht eingeweiht worden war, traf um 15 Uhr in der Redaktion ein. Als er vom Tod Rindts erfuhr, entschied er: „Der tote Rindt muss auf die Titelseite.“ Aber wer soll den Bericht schreiben? Pinnebös legte Stöger das Manuskript mit dem Text Urbaneks auf den Tisch. Stöger, leicht verwirrt, stürmte durch die Redaktionen: „Kennt wer einen Peter Urbanek? Das ist angeblich unser Berichterstetter in Monza.“ Keiner der anwesenden Redakteure hatte auch nur die geringste Ahnung, wer für den „Kurier“ vom Italien-Grand Prix berichtete.

Peter Urbanek, an diesem Tag unfreiwillig zum wichtigsten Mann des Blattes geworden, durfte auch noch den Text für die Titelseite verfassen. Ob er dann mehr als die mit Christmann vereinbarten 300 Schilling Honorar bekommen hat – das weiß heute niemand mehr.

www.buch-effenberger.at

Foto: Joost Evers / Anefo (nationaalarchief.nl)