Kultur-Token nennt die Stadt Wien ein „klimafreundliches“ Pilotprojekt, das in den Grundzügen an das chinesische Sozialkredit-System erinnert.
Was gut oder böse ist, wird längst von außen definiert. Wir werden schleichend trainiert, konditioniert und gelenkt. Das klappt am besten mit dem menschlichen Spieltrieb. Wir sammeln Likes, Freunde und natürlich reichlich Bonuspunkte im Handel – immer verbunden mit der Abfrage zahlreicher persönlicher Daten. Ohne großartig darüber nachzudenken, geben wir damit nicht nur das kostbare Gut Privatsphäre auf, sondern gleiten Schritt für Schritt in eine Art Erziehungsmodell hinein.
Das Wiener Forschungsprojekt „Kultur-Token“ belohnt klimafreundliches Alltagsverhalten mit diversen kostenfreien Eintritten. Hierfür genügt eine App, die natürlich den Anwender genau überwacht. Ab eingesparten 20 Kilogramm CO2 gibt es Eintritte in diverse Kulturveranstaltungen, etwa Volkstheater, Konzerthaus oder Wien-Museum. Die Bedingung ist einfach: zu Fuß gehen, Fahrrad fahren oder seine Fortbewegung mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestreiten. Den ersten Versuch startete die Stadt Wien bereits im Jahr 2022, und im April 2024 ging die zweite Pilotphase los. Zwar wird be-ruhigt, in Zukunft soll mit der Blockchain – übrigens eine besonders energiefressende Technologie – Anonymität gesichert sein, außerdem sei die Teilnahme immer freiwillig.
Allerdings kann es nie eine Garantie geben, dass es später nicht zu Strafabzügen für Autofahrten oder Flugreisen kommen könnte. An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu. Man stelle sich obendrein vor, das System würde an Sozialleistungen oder ein CO2-Konto gekoppelt – frei nach der modernen Sage des abgekochten Hummers. Diese besagt, dass das Tier aus dem kochenden Wasser herausspringen würde, langsam aufgekocht würde es dies aber erst bemerken, wenn es zu spät ist. Wissenschaftlich ist die Hummer-These nicht haltbar, sie veranschaulicht allerdings ein Prinzip, an das wir uns in fast allen Bereichen des Lebens gewöhnt haben und es stillschweigend akzeptieren.
In China ist das längst Realität. Wer die dort geltenden staatlichen Vorgaben von Richtig und Falsch verinnerlicht und sich entsprechend verhält, sammelt Punkte. Diese helfen bei Ausschreibungen, Kreditvergaben oder vereinfachten Ausreisen. Wer sich anders verhält – dazu gehört bereits der Konsum von „Erwachsenen-Material“ –, wird automatisiert bestraft. Etwa mit dem Ausschluss von staatsnahen Jobs, der Drosselung des persönlichen Internet-Speeds, individuellen Steuer-Erhöhungen, Sperren für öffentliche Verkehrsmittel.
Wien ist definitiv nicht China, es ist auch nicht geplant, so ein System hierzulande zu übernehmen. Es sei allerdings davor gewarnt, dass kostenlose Bonus-Leistungen nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden können. Und dass das wohlmeinendste System in den falschen Händen arg missbraucht werden kann, so es genügend breite Bevölkerungsschichten erreicht. Auch wenn China durch den Bau zahlreicher Kohlekraftwerke und Flughäfen aktuell nicht gerade den Klimaschützer mimt, so sehen Experten die Volksrepublik 2060 technisch als real erste CO2-neutrale Nation. Deren Sozialkreditsystem wird dabei ein Teil davon sein, die Bevölkerung zum Energiesparen zu zwingen. Auch in Europa gibt es bereits Applaus für Energiesparzwänge und Ideen zu persönlichen CO2-Konten. Belohnungssysteme für Recycling, defensives Autofahren oder Energie-Einsparung werden in Europa immer wieder getestet. Heizen oder Geizen – ob wir das wollen?
Foto: Robert May