Le Mans für Anfänger: Das 24-Stunden-Tagebuch

14. Juni 2016
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Das Ergebnis des Le Mans-Rennens, Ausgabe 2014 ist schnell erzählt: Audi fährt einen souveränen Doppelsieg ein, Porsche kommt bei ihrem Comeback mit einem Auto ins Ziel und der Toyota von Alex Wurz fällt in Führung liegend aus. Die analytische Seite des Rennens kann die Faszination des Ausdauer-Klassikers aber nicht einmal Ansatzweise wiedergeben. Denn die Story, wie es zu dieser Platzierung kam, spricht eine ganz andere Sprache. 24 Stunden, da passiert eine Menge, und überhaupt: Was macht man einen ganzen Tag lang als nicht-aktiver Teilnehmer eigentlich dort? Noch dazu als Le Mans-Neuling? Ein Tagebuch der Geschehnisse, das eines deutlich macht: Langweilig wird es in Le Mans nie.

Audi R18 e-tron quattro #7 (Audi Sport Team Joest), André Lotterer, Marcel Fässler, Benoît Tréluyer

12 Uhr: Stau. Die wenigen Kilometer vom Flughafen zur Rennstrecke ziehen sich ewig. Alles wälzt sich um einen unschuldigen Kreisverkehr.

13 Uhr: Endlich an der Strecke. Die Parkplätze sind bestens gefüllt. Astons drängen sich neben TVRs, Jaguare, Porsche und BMWs. Die Briten sind die Ärgsten, kommen mit allem, was PS und Namen hat.

13:30 Uhr: Fahrerlager. Geschäftiges Treiben. Mark Webber radelt konzentriert durchs Fahrerlager, von Hektik weit und breit keine Spur.

14 Uhr: Nach kurzer Orientierungsphase bei Porsche eingefunden. Die Paläste der Hersteller für VIPs, Gäste und Presse sind beeindruckend. Allein Porsche verbraucht 300 Melonen, 600 Kilo Nudeln, 2000 Eier und 1,2 Tonnen Fleisch.

DSC0493714:30 Uhr: Probiere es noch einmal, an die Strecke zu kommen. Die Startgerade ist von Zuschauern umsäumt, keine Chance auf einen Platz.

15 Uhr: Zurück bei Porsche, pünktlich zum Rennstart. Der Toyota von Alex Wurz geht in Führung, dann die Audis und Porsches.

15:20 Uhr: Der Nissan ZEOD RC fällt aus. Das Quasi-Dreirad, das rein elektrisch eine ganze Runde absolvieren, und ebenso aus rein elektrischer Kraft 300 km/h fahren wollte, scheitert an einem völlig irdischen Defekt: Getriebeschaden.

15: 30 Uhr: Das Tempo ist enorm. Die Jungs an der Spitze geben Gas, als wäre es ein Sprintrennen. Jetzt werden die Rundenzeiten aber langsamer, sonst bekommen sie noch Probleme mit zu hohem Spritverbrauch.

16 Uhr: Regen ist angesagt, zumindest kurz. Vielleicht ja sogar der typische Le Mans-Regen? Ich blicke gespannt in den Himmel.

16:30 Uhr: Kurzer Schauer im Fahrerlager. Überall wandern Regenreifen in die Heizzelte. Spürbare Hektik. Dieses mal stehe ich wirklich im Weg.

16:50 Uhr: Unfall! Ein Toyota, ein Audi und ein privater Ferrari sind raus. Es regnet abschnittsweise stark, andernorts scheint fröhlich die Sonne. Möchte jetzt kein Teamstratege sein.

17 Uhr: Kurzer Besuch bei Audi. Dort auf den Flatscreens ist das Rennen wohl besser mitzubekommen als irgendwo an der Strecke.

#117:10 Uhr: Auf einen Kaffee mit Hans Joachim Stuck und Derek Bell. Zwei Le Mans-Haudege
n von Porsche. Der Unterschied zwischen Le Mans damals und Le Mans heute? Stuck: „Früher musstest Du mehr Allrounder sein, mehr Kompromisse eingehen, mehr aufs Material aufpassen.“ Bell: „Was immer gleich bleibt: In Le Mans brauchst Du nicht nur die besten Techniker und die besten Ingenieure, sondern auch das meiste Glück.“

17:30 Uhr: Besuch bei Richard Lietz in der Box. 28 Personen sind pro Auto tätig, tummeln sich in winzigen Räumen. Kaum Platz, weil die Bausubstanz hier so alt ist. Kein Wunder, dass ich ständig glaube, im Weg zu stehen.

17:50 Uhr: Habe in einer Box eine alte originale Mauer aus dem Film Le Mans entdeckt! Genau dort muss Steve McQueen gestanden sein, aber hundertprozentig.

18 Uhr: Rundgang durch einen der großen Parkplätze. Autos, so weit das Auge reicht. 250.000 Zuschauer sollen es sein, die Hälfte davon sicher aus England, wenn man nach der Dichte an britischen Kennzeichen geht.

19 Uhr: Unterwegs zur Porsche-Kurve, auf eine Bratwurst und ein Bier. Richtiger Verkehr auf der Strecke und bei den Aussichtsstellen. Sogar aus Australien tummeln sich Fans hier. Anhand der Schirmkappen lässt sich sehr leicht feststellen, zu welcher Marke die Gruppen halten.

Riesenrad als Ersatzprogramm

Riesenrad als Ersatzprogramm

20 Uhr: Shuttle zurück zur Strecke. Passanten, Autos, Fahrräder, Motorräder, Alkis und Polizisten, alles wälzt sich auf der Straße in alle Richtungen. So stelle ich mir Tokyo Montag morgen vor.

21 Uhr: Wieder mal bei Audi. Gediegene Atmosphäre. Dass Toyota in Führung liegt, verunsichert hier niemanden. Man spürt, dass hier eine ganz eigene Strategie verfolgt wird.

22 Uhr: Die Sonne geht endgültig unter. Die Spannung steigt. Nachtfahrten haben immer ihre ganz eigene Dimension.

22:30 Uhr: Heißen Insider-Tipp bekommen: Beim Kreisverkehr am großen Campingplatz hat es letzte Nacht eine inoffizielle Burnout-Arena geben. Wo jeder Gas gibt, bis hin zu den Lambos und Ferraris. Finde heute aber nur mehr Alk-Leichen dort.

23 Uhr: Leute zusammentrommeln für einen Ausflug an die Strecke.

23:20 Uhr: Ankunft Mulsanne, direkt an der Schikane. Eine ganz eigene Dimension des Zuschauens, wenn aus dem Finster der Nacht die Renner angeflogen kommen, um nach den engen Kurven wieder in der schwarzen Luft zu verschwinden.

Porsche 911 RSR, Porsche Team Manthey: Marco Holzer, Frederic Makowiecki, Richard Lietz

Gänsehautgarantie: Vollgas-Orgien auf der Mulsanne

Mitternacht: Die Dichte an Ferraris im Starterfeld ist enorm. Irgendwo fällt die Bemerkung „Le Mans-Golf.“

00:15 Uhr: Erkenntnisse an der langen Geraden: Die Unterschiede zwischen den einzelnen Klassen sind enorm. Gerade die LMP1-Geschwüre machen mit den GT-Autos, was sie wollen.

01 Uhr: Indianapolis-Kurve. In der Nacht sieht man erst die entscheidenden Dinge. Diffusoren werfen Funken, Bremsscheiben glühen, Flammen aus brennheißen Auspuffrohren. Das ist Motorsport!

01:12 Uhr: Ausgerechnet ein Ferrari rollt vor uns aus. Sicher nur ein Zufall.

01:30 Uhr: Mulsanne. Langsam wird’s richtig kalt. Mir fällt Derek Bell ein, der sich nach einem Nacht-Stint bei strömendem Regen gedacht hat: „Was zur Hölle mache ich hier eigentlich?“

01:31 Uhr: Mir fällt Hans Joachim Stuck ein, der darauf gemeint hat: „Also das habe ich mir nie gedacht.“

02:12 Uhr: Zurück im Fahrerlager. Die Ereignisse wiederholen sich, Auto um Auto zieht vorbei. Es wird tatsächlich ein wenig monoton. Die ersten gehen schlafen, ich sicher nicht.

02:13 Uhr: Ich gehe schlafen.

Audi R18 e-tron quattro #2 (Audi Sport Team Joest), Marcel Fässler, André Lotterer, Benoît Tréluyer

Race around the clock: Wer sich wirklich reinfallen lässt, geht nur im äußersten Notfall schlafen

3 Uhr: Endlich im Hotel. Der Verkehr will nicht abreißen. Der ganze Ort scheint im Ausnahmezustand zu sein.

05:00 Uhr: Der Toyota von Alex Wurz rollt mit Elektronik-Problemen aus. Kollegen versuchen ihn zu erreichen, er möchte verständlicherweise aber erst mal seine Ruhe haben.

05:15 Uhr: Wecker nicht gehört.

06:00 Uhr: Panisches Aufwachen, im Glauben, das Rennen verschlafen zu haben.

07:03 Uhr: Audi tauscht den Turbolader am in Führung liegenden Fahrzeug. Routinierter Eingriff, nach 23 Minuten ist auch schon wieder alles erledigt. Hut ab.

Porsche 919 Hybrid, Porsche Team: Timo Bernhard, Brendon Hartley, Mark Webber07:45: Zurück an der Strecke, Frühstück bei Porsche. Die generelle Stimmung: Vorsichtige Freude. Beide Autos noch verdammt gut im Rennen. Aber wie Derek Bell schon gesagt hat: „Porsche muss versuchen, das Rennen in erster Linie zu beenden. Jetzt schon an den Sieg zu denken, wäre verfrüht.“

08:00 Uhr: Lese einen dramatischen Tweet von Herrn Wurz: „Ich könnte heulen. 14 Stunden in Führung und jetzt ein technisches Gebrechen.“ Wer würde da nicht heulen.

08:30: Zeit für die persönliche Sound-Wertung. Die Ferraris sind am lautesten, OK. Aber die Astons klingen brutal und die Corvettes wie durchgeknallte Zuchtbullen. Lang lebe der V8. Die LMP1-Prototypen klingen alle ein wenig nach Staubsauger.

09:00 Uhr: Kurzer Rundgang über einen Campingplatz. Die Mauern aus leeren Bierflaschen stapeln sich, die Leute feiern alle eine riesige Party. Vom Rennen selbst bekommt hier schon lange keiner mehr etwas mit.

10:11 Uhr: Besuch bei diversen Privatteams: Ein Pressesprecher zeigt mir das Wundermittel seines Teams zum Munterbleiben. Garantiert ohne Nebenwirkungen, und funktioniert sensationell. Was da drin sei? Das wollte der Teamarzt nicht verraten.

Hauptsache Le Mans-Schriftzug: Fanartikel

10:30: Kurzer Rundgang durch die Fan-Shops. Nichts, was es nicht gibt. Habe mir bewusst kein Bargeld mitgenommen, genau deswegen. Einige nehmen aber auch Kreditkarten. Mist.

10:45: Treffe eine Gruppe österreichischer Fans. Ihr Wunschergebnis? Audi darf ruhig gewinnen, aber der Alex hätte sich zumindest Platz zwei verdient gehabt. Und Porsche als Dritter, also alle Marken auf dem Podest, das wäre schön gewesen.

11 Uhr: Porsche und Audi wechseln sich an der Spitze ab. Jetzt führt wieder der 919 Hybrid. So recht will das aber keiner wahr haben. Die letzten Stunden zehren am Nervenkorsett immer am meisten.

11:28 Uhr: Der zweite Audi muss an die Box, auch hier: der Turbolader. Dieses mal in 18 Minuten gewechselt. Die Jungs haben echtes Potenzial.

Dramatisches, etwas unglückliches Finish: Porsche 919 Hybrid

Dramatisches Finish: Porsche 919 Hybrid

11:40: Porsche-Nachwuchsfahrer Klaus Bachler getroffen. Seine Strategie für das restliche Rennen: Fahren, fahren, fahren, und auf der Strecke bleiben. Sein Geheimnis, um munter zu bleiben. Power-Napping. Beim ersten mal Le Mans war er so aufgeregt, wollte alles mitbekommen. Das ermüdet natürlich extrem. Das deckt sich auch mit meinen Erkenntnissen.

12:05 Uhr: Webber springt panisch von seinem Sessel auf und läuft los, sich fertig machen.

12:30 Uhr: Ein Teammanager erzählt mir, dass sie eigentlich 24 Stunden lang Vollgas fahren. Keine Strategie mehr, was das Material-schonen betrifft. Und warum nicht? „Weil die Autos es können.“

13 Uhr: Ausfall Porsche: Irgendwas mit dem Benzinmotor. Le Mans hat ganz böse zugeschlagen. So kurz vor Schluss.

13: 15 Uhr: Menschenmassen vor einem Porsche-Container. Patrick Dempsey huscht für gute drei Sekunden vorbei, mit wirklich tief ins Gesicht gezogener Kappe.

13:30 Uhr: Ausfall Porsche Nummer 2: Irgendwas mit dem Antriebsstrang.

Audi R18 e-tron quattro #1 (Audi Sport Team Joest), Lucas di Grassi, Tom Kristensen, Marc Gené, Audi R18 e-tron quattro #2 (Audi Sport Team Joest), Marcel Fässler, André Lotterer, Benoît Tréluyer

Souverän: Audi-Doppelsieg

14 Uhr: Richard Lietz erzählt aus dem FF. Die Strategie für die verbleibende Stunde? Volle Attacke, nichts mehr schonen. Er ist nur mehr auf Stand-by, „falls einem Fahrer schlecht wird.“

14:30 Uhr: Die Audis ziehen unbeeindruckt ihre Runden. Es ist fast schon ein Schaulaufen, einholen kann die beiden keiner mehr.

14: 56 Uhr: Porsche Nummer 20 geht wieder ins Rennen. Nur mehr ankommen, das zählt. Er schafft es.

14:59: Die letzten Runden. Frage einen alten Kollegen, der schon seit Jahren nach Le Mans fährt, ob es denn niemals langweilig werde. Nein. Es ist immer die gleiche Hülle, aber jedes Jahr ein neuer Inhalt.

15 Uhr: Audi gewinnt zum dreizehnten mal.