Die gute Nachricht zuerst: Es gibt ein Auto-Leben abseits von Ladevolumen-Bedarf, Isofix-Begeisterung und Verbrauchs-Knauserei. Willkommen bei einer der erfreulichen Ausnahmen, bei der all diese wahnsinnig praktischen Dinge absolut bedeutungslos sind! Wir könnten jetzt über technische Details schwadronieren, die es auch unbedingt verdienen, besungen zu werden: das handgeschweißte Alu-Spaceframe-Chassis etwa oder den epochalen V12-Biturbo-Motor samt seinen beeindruckenden Leistungsdaten, die seidenweich schaltene Achtgang-Automatik mit GPS-Modul für effizienzoptimierte Gangwechsel, den souveränen Allradantrieb und die beeindruckende Vierrad-Lenkung. Und damit dennoch nur eine veritable Themaverfehlung abliefern – denn keines dieser großartigen Features teilt auch nur im Geringsten etwas darüber mit, was einen Rolls-Royce oder im Speziellen den Cullinan ausmacht.
Was der Allradantrieb tatsächlich nicht bewältigen sollte, schafft die Urkraft des V12: Vor 571 PS und 850 Netwonmetern kapitulieren selbst Berge, 54 Zentimeter Watt-Tiefe reichen für gängige Flussdurchquerungen.
2015 löste die Ankündigung, dem Markttrend zu folgen und einen SUV bauen zu wollen unter den Traditions-Bewahrern der Marke vor allem Bestürzung aus. Wegen der Frage sich der Welt, wie sie nun einmal ist, anzupassen oder nicht, ist bereits ein Empire zerbrochen und ein Brexit passiert – und wäre Rolls-Royce heute nicht das Kronjuwel von BMW, sondern noch in britischer Hand, wäre die Anwort wohl auch hier ein klares „No!“ gewesen. Die Gratwanderung, die Marken- Tugenden nicht zu verraten und dennoch genau das zu bauen, was Herr Scheich und Frau Oligarchin erwarten, ist jedenfalls gelungen. So sehr, dass der Cullinan künftig zweifellos auch in den PS-Stall so manches britischen Landsitzes einziehen wird, ohne damit einen Stilbruch zu begehen.
Schon die Benennung zeugt von bedächtigem Umgang mit den Thema: Cullinan hieß der mit 3100 Karat größte jemals gefundene Rohdiamant. In einer Mine, die tatsächlich ausgerechnet „Premier“ heißt und im Hinterland von Transvaal liegt, wohin eine Reise – machmal passt ja tatsächlich jedes Detail – ohne geländetaugliches Fahrzeug wirklich nicht anzuraten ist. Und aproposKronjuwel: Die geschliffenen Einzelstücke des Cullinan zieren heute Zepter und Krone Britanniens, so wie Rolls-Royce dessen Automobil-Tradition.
- Gibt Ruhe: Im Cockpit des Cullinan herrscht stille Unaufdringlichkeit, gestaltet mit höchster Hand- werkskunst. Die Geräusche der Welt – auch, die des großen SUV selbst – bleiben draußen.
- Digital trifft Tradition, und hier vertragen sich die beiden wirklich hervorragend. Statt eines Drehzahlmessers gibt es links die bei Rolls übliche Power-Reserve-Anzeige.
- Die reine Wucht: Der V12-Motor ist optisch ansprechend, akustisch diskret und hat genug Leistung, um den 2,7-Tonner in 5,2 Sekunden über das erste Hunderter-Limit zu katapultieren.
Das unverkennbare Box-Design der Limousine Phantom sortiert der Cullinan gekonnt auf SUV-Proportionen um – die Tatsache, dass er der erste Rolls-Royce mit Heckklappe und Anhängerkupplung ist, darf als historische Fuß-note abgehakt werden. Selbstredend öffnet das hintere Portal elektrisch, völlig lautlos und horizontal zweigeteilt. Auch die Rücksitzbank klappt motorgetrieben um – und das natürlich nicht wie sonst mit einem launigen Schnalzer, sondern stumm und bedächtig. Selbst der Kofferraumboden hebt oder senkt sich sanft elektrisch – man will ja die sensiblen Jagdhunde nicht erschrecken.
Auf einem SUV findet der wuchtige Kühlergrill mit dem nach wie vor unverkennbaren Layout einer griechischen Tempelfront die perfekte Fassade und die berühmte Kühlerfigur ihr bisher höchstgelegenes Podium. Dass sie Flügel hat ist übrigens ein Irrglaube – es ist ein luftiges Kleidchen, das im da im (Fahrt-)Wind weht. Und sie heißt eigentlich auch nicht Emily – ihr tatsächlicher Name war Eleanor Thornton, Sekretärin und Geliebte des mit Mr. Rolls befreundeten Baron Montagu of Beaulieu. Dass die Figur, deren Vorlage sie zu geben beliebte, höchst offziell den Namen Spirit of Ecstacy erhielt, sagt womöglich einiges über die Dame aus. Sie wird wohl eine virtuose Schreibkraft gewesen sein.
Der erste Rolls mit Heckklappe darf auch auf eine Anhängerkupplung stolz sein. Schmutzige Hände? Also bitte – natürlich ist beides elektrisch betrieben. Auf Wunsch wird der Kofferraum mit zwei Picknick-Sesseln bestückt, elegant als „viewing suite“ bezeichnet – um die schöne Aussicht in stilsicherer Haltung zu genießen.
Es gab schon einige Fahrzeuge der Marke, die ob ihrer puren Raumhöhe für außerordentliche Wohnqualität bekannt waren: Der Silver Wraith und die Phantome IV bis VI etwa – aber noch keines, das bergauf bestiegen werden musste. Der Cullinan verlangt erstmals dieses Mindestmaß an Sportlichkeit, gleicht es aber, wie auch der Phantom, mit gegenläufig angeschlagenen Türen aus – für den Einstieg hinten eine höchst angenehme Zugangs-Variante. Die Passagiere empfängt ein unaufdringlicher, schnörkelloser Innenraum im Geiste der Bauhaus-Schule oder eines Le Corbusier: modern, klar, formal reduziert, aber in klassischer Handwerkskunst gefertigt. Wenn Bentley das Äquivalent einer Chesterfield-Chouch ist, dann entspricht Rolls-Royce einem Gropius-Möbel – beides hochwertig und zeitlos, aber dennoch so unterschiedliche Stil-Universen wie nur denkbar.
Dass die digitale Architektur aus dem BMW-Regal stammt, weiß Rolls-Royce mit eigenständigen Bedienelementen geschickt zu kaschieren – eine Mühe, die sich der Volkswagen-Konzern bei seinen Premium-Marken leider nicht immer macht. Alles am und im Cockpit des Cullinan wirkt feinsinnig und edel, aber dennoch natürlich und zwanglos. Jedes Detail steht für Qualität am obersten Ende der Skala. Egal, welcher Knopf oder Hebel betätigt wird: Hier rastet nichts knackend ein. Es gibt nur sanftes Feedback und trotzdem die Gewissheit, dass es so passt. Beispiel Startknopf: Der weckt einen 571 PS-V12 mit der Traditions-Kubatur 6,75 Liter, die seit den frühen 70ern zur Marken-Identität gehört. Kein Rütteln, kein Schütteln. Eine kaum merkbare Änderung in der akustischen Atmosphärik, mehr nicht. Viele Beifahrer atmen lauter als der Zwölfender. Gang einlegen über einen angesichts seiner Machtausübung fast lächerlich filigranen Lenkstock-Hebel: ebenfalls ruck- und geräuschlos. Der Cullinan kultiviert die Ruhe.
- Der erste SUV, den man auch gerne mit Chaffeur fährt. Auf Wunsch hilft eine eingebaute Bar …
- eventuell aufkommende Langeweile im Fond zu vertreiben, sollten moderne Tablets das nicht schaffen.
Auch am Gaspedal ist der große SUV betont wohlerzogen. Die Beschleunigung passiert gefühlt nur draußen vor dem Fenster, an dem die Welt immer eiliger vorbeihuscht. Drinnen herrscht heilige Stille – auch, wenn die digitale Tachonadel zielstrebig über den ersten Hunderter klettert. Das Gleiche, wenn der zweite erreicht ist, und selbst an der künstlich eingezogenen 250er-Grenze ist keine Änderung zu erwarten. Ähnliche Souveränität am linken Pedal: Die Landschaft draußen vor dem Raumgleiter nimmt zügig wieder Gestalt an. Der Lenkung gelingt das Bravourstück, extrem samtig, aber dennoch nicht indirekt zu sein. Dass alle vier Räder reagieren, verhilft dem Koloss mit gut 3,3 Metern Radstand und an die 2,7 Tonnen Kampfgewicht zu einer beachtlichen Fahrdynamik, die selbst so manche kompaktere Limousine relativ schwach dastehen ließe.
Enge Gassen gehören angesichts der schieren Baubreite von über 2,16 Metern naturgemäß nicht zum Revier des Cullinan – eventuell hilft er seinen Eignern damit aber nur, sich von Gegenden fernzuhalten, in denen sie eh nichts verloren haben. Auch abseits solch mitgelieferter Social Security ist der britische Nobel-SUV schlichtweg ein Reisebegleiter besonderer Güte: Das mittels Frontkamera Bodenunebenheiten abgreifende und proaktiv reagierende Dämpfersystem sorgt für Schwebekomfort, der dennoch nicht schwammig wirkt. Zu sportlichen Experimenten verleitet er aber schon naturgemäß nicht. Sämtliche Bösartigkeiten der Fahrbahnoberfläche werden bravourös weggefiltert. „Everywhere“ war ursprünglich als Bezeichnung für den Gelände-Modus angekündigt, nun steht auf dem entsprechenden Knopf, etwas gar beliebig, doch nur „Off Road“. Wie viele seiner Kunden den britischen Upperclass-Allradler tatsächlich jemals in dieser Funktion betreiben werden, sollte nicht unterschätzt werden: Wüsten-Söhne und neuerdings legalerweise auch -Töchter erwarten solide Dünen-Tauglichkeit unbedingt, und jenseits des Urals erreicht das Gros der Straßen meist nicht einmal Sandpisten-Qualität.
Endlich ein SUV für die oberen Eintausend: Der Rolls-Royce Cullinan lässt keine Wünsche offen – und wenn doch, werden sie natürlich gerne als Extra erfüllt. Wie passend sich das markante Box-Design tatsächlich auch auf einen Hochsitz übertragen hat lassen, darf als gelungene Überraschung gelten.
Der wuchtige Thron für alle Fälle hat natürlich seinen Preis: 265.000 Euro sind ein imposanter Betrag. Gemessen an dem, was dafür geboten wird, würde er tatsächlich aber gar nicht so abgehoben klingen, wäre es nicht bloß der Nettotarif ohne staatliche Abgaben und Steuern. Nach aktueller Grobberechnung werden daraus hierzulande mit NoVA und Umsatzsteuer etwa 420.000 Euro, und das ist sozusagen – mit einem Sorry für diese Wortwahl nach Goodwood, wo der Cullinan handgefertigt wird – erst der Listen-Lockvogel. Also ohne Extras oder Sonderwünsche, die zu erfüllen Rolls-Royce gerne bemüht ist, solange sie den gängigen Geschmacks-Kanon nicht verletzen. Dafür, mit welcher diplomatischen Raffinesse dann gegebenenfalls hantiert wird, darf die Anwort auf die Frage nach einem künftigen SUV-Coupé gelten: „Wir denken in Szenarien und beobachten die Möglichkeiten, die zu unserer Marke passen.“ Noch Fragen?
Daten & Fakten
V12, 48V, Bi-Turbo, 6749 ccm, 571 PS (420 kW) bei 5000/min, max. Drehmoment 850 Nm bei 1600/min, Achtgang-Automatik, Allradantrieb, Scheibenbremsen v/h (bel.), L/B/H 5341/2164/1835 mm, Radstand 3295 mm, 4/5 Sitze, Reifendimension 255/50 R 21, Kofferraumvolumen 560–1930 l, Wendekreis 13,2 m, Leergewicht 2660 kg, 0–100 km/h 5,2 sec, Spitze 250 km/h, Normverbrauch Mix 15 l ROZ 98, CO2 341 g/km
Preis: ca. € 420.000,–