Exklusiv: BMW 2002 turbo

10. Oktober 2016
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Mit der Bewertung von früheren Taten ist es so eine Sache. Die schleichende Verbravung macht ja posthum schon aus jedem soliden Schwips ein soziales Problem. Umgekehrt wirkt BMWs großer Aufreger der 70er-Jahre, der 2002 turbo, heute wie ein besserer Lausbubenstreich. Der seinerzeitige Aufruhr der Angstbeißer scheint so betrachtet unverständlich gekünstelt – und war es auch damals schon. Zuerst sind es die in Spiegelschrift auf dem Frontspoiler angebrachten Turbo-Lettern, an denen sich 1973 die Wehleidigkeit der politisch Korrekten verfängt. Die so im Innenspiegel des Vordermanns gut lesbare Botschaft – nämlich „Schleich dich, du Opfer!“ – hätte ohne weiteres auch als Warnhinweis im Dienste der Verkehrssicherheit verstanden werdenkönnen. Wurde sie aber eben nicht.

Oberflächliche Chronisten rücken den Aufruhr um das bayrische Druck-Gerät in direkten Zusammenhang mit der Ölkrise – was sich bei näherem Hinsehen aber knapp nicht ausgeht. Der erste europäische Serienwagen mit Abgasturbolader wird auf der 45. Frankfurter Automobil Ausstellung präsentiert, die am 13. September 1973 ihre Pforten öffnet und fatalerweise unter dem Motto „Mit dem Auto in die Zukunft“ steht. Die Aufregung ist schon im Vorfeld der Show groß und bauscht sich dort erst recht auf. Ein Turbolader für ein Straßenauto, wie kann man nur, muss das denn sein und überhaupt. Parlamentarische Anfragen in Bonn als Gipfel der Bigotterie, Vorwürfe wie „ungebremster Motorisierungs-Wahn“ anlässlich eines Autos mit 170 PS – von denen, deren Dienstlimousinen schon längst einige Pferde mehr haben.

 

Drei Wochen nach der IAA treten die Israelis ihren vereinten arabischen Nachbarn im Jom Kippur-Krieg kräftig dorthin, wo sonst nur der Kaftan zwickt. Die Wüstensöhne beschließen, diese Erfahrung mit der westlichen Welt zu teilen und drehen dazu die Ölhähne auf Spardurchfluss. Die Reaktionen der Politik sind in Verordnungen gegossene Panikattacken, ein Mahnmal der Überforderung: autofreie Tage, die außer Ärger nichts bewirken. Tempolimits, die jenseits der Höchstgeschwindigkeit von etwa neunzig Prozent der damals laufenden Fahrzeuge liegen. An der Spitze der Dilettanten: Bundes-Bruno mit dem huldvollen Ratschlag, statt dem Elektrorasierer doch wieder die Nassrasur ins Auge zu fassen. Einem echten Politiker ist halt nichts peinlich.

bmw2002turbo_01_mayIn den folgenden Monaten überbieten sich die Automobilhersteller geradezu im Auswerfen von Sparvarianten und im Strangulieren ihrer Modelle. Der 2002 turbo ist dafür unempfänglich und steht aufrecht als einsames Mahnmal der reulosen Freude am Fahren. Selbst bei Kuschelsex mit dem Gaspedal ist er schwer unter 15 Liter Verbrauch zu drücken, erst 20 Liter gelten als glaubwürdiger Nachweis für ausgelebtes Jugendverbot. Den Mahnern und Weltuntergangsbewahrern kommt er damit gerade recht, und wie zuvor Araber und Israelis hatten sie somit auch ihr ehernes Feindbild gefunden.

Soweit zur historischen Aufregung. Zeit, herauszufinden, wie viel davon vierzig Jahre später zu erfahren ist. Chamonix heißt die Farbe und ist natürlich weiß – wie die Hänge um den namensspendenden Wintersportort. Für die Unschuld steht Weiß auch, was angesichts der soeben erzählten Geschichte ein bisschen ins Süffisante abgleitet. Gegen Aufpreis war das 02er-Topmodell auch in silbermetallic zu haben, immerhin. Dass dieser BMW mit seinen Anbauteilen rundum heute irgendwie unernst wirkt, ist tatsächlich nur der Fluch des Vorreiters. Denn das Design des Turbo mit seinen auf die Standard-Karosserie geschraubten Spoilern und Kotflügelverbreiterungen wurde rasch zum Vorbild für allerlei Kunststoff-Steroid, mit dem die Formel G’schert von da an für Jahrzehnte auf den Parkplätzen der Dorf-Discos antrat.

 

Auch im Innenraum herrscht eher gezügelte Sportlichkeit. Der ziegelrote Instrumenten-Rahmen erinnert an eine mit der Spraydose vorgenommene, leidlich gelungene Individualisierung. Die ausgeschriebene deutsche Beschriftung der Bedienelemente wirkt heute sympathisch antiquiert, weil inzwischen jeder nur noch die weltsprachigen Kürzel auf seinem Armaturenbrett gewöhnt ist. Sitze, die ihre Seitenhalt-Qualitäten nicht zuletzt aus dem Einsinken in die Polster gewinnen, das ganze Layout ein herzlicher Gruß aus den 70ern. Zu allem Überfluss fordern die stehenden Pedale einen anatomisch nicht vorgesehenen Winkel zwischen Füßen und Unterschenkel. Der Starter weckt einen unaufgeregt dahinbrummelnden Motor, der sich seine versteckten Qualitäten vorerst einmal akustisch nicht anmerken lässt. Viel Entwicklungsarbeit hat sich BMW mit dem Aggregat nicht angetan. Der solide E10-Block mit zwei Litern Hubraum und acht Ventilen, ein KKK-Abgasturbolader.

6Wastegate? Fehlanzeige – der Turbo läuft immer unter dem Staudruck der Abgase, und was an Luft nicht in den Ansaugtrakt gepresst werden kann, strömt dran vorbei. Simpler geht’s kaum. Das Warmfahren ist die bittersüße Vorfreude, die das Antreten zum heißen Ritt hinauszögert. Mit steigender Drehzahl drängelt schon das sonore Pfeifen durch die unspektakuläre Geräuschkulisse. Endlich die Freigabe für den rechten Fuß. Bis 4000 Touren bleibt der Antritt eher zäh und unwillig, darüber setzt ein sich verteufelt schnell aufbauender Schub ein, und der 2002 zeigt, dass er die Aufregung um sein Erscheinen wert war. Wer sich eine rabiate, unbeherrschbare Pistensau erwartet, wird aber enttäuscht. Besser gesagt: positiv überrascht – die Kraftentfaltung ist bei weitem nicht so abrupt oder brachial, wie es der Ruf des Wagens suggeriert. Der Turbo-Schub setzt zwar erst im oberen Drehzahlbereich ein, bleibt dann aber solide und linear auf hohem Niveau erhalten und fällt auch am Drehzahl-Maximum nicht ab. Das etwas hakelige Getriebe ist gewöhnungsbedürftig, die Schaltwege sind aber kurz und bündig. Wer den raschen Umgang mit dem Ganghebel beherrscht, nimmt den Turbo-Schub ohne Abreißen in jeden höheren Gang mit, ständig begleitet vom schrillen Pfeifen aus dem Motorraum. Und genau damit offeriert der 2002 auch seine wahren Qualitäten – nicht die eines sinnlosen Haudraufs, sondern die eines kompakten, unglaublich schnell in Bewegung zu haltenden Hochleistungssportlers.

Das gegenüber den 2002-Modellen mit Saugmotor gestraffte Fahrwerk hält das Kraftpaket sauber auf der Straße. In der einen oder anderen Kurve bittet die losgetretene Power das Sperrdifferenzial zu Diensten, aber über allem bleibt stets die solide und mit dem Gaspedal unbeirrbar zu dirigierende Kraftentfaltung. Die heikle Übung besteht im Halten der Drehzahl für den Wirkungsbereich des Turboladers – schon dadurch wird das Beherrschen eher für den Fahrer als für das Auto zur Leistungsfrage. Die Lenkung ist passend direkt, wem das Schmalz an der Hinterachse doch einmal auskommt, dem gibt sie Gelegenheit, den Kraftlackel auch wieder einzufangen.

Wie immer ist die Suchtgrenze schnell überschritten, die Entwöhnungsphase dagegen lang und bitter. Nicht obwohl, sondern gerade weil der 2002 turbo eindeutig nicht zum Alltags-Gerät taugt. Er würde diese Disziplin schon auch beherrschen, nur mag sie niemand mit ihm bestreiten. Der Rest, das was darüber liegt, macht einfach zu viel Spaß. Als der verschärfte BMW nach etwa eineinhalb Baujahren wegen des Modellwechsels zur ersten Dreier-Serie eingestellt wird, sehen sich die Spaßbremser bestätigt: Der Turbo hat keine Zukunft, es lebe die Vernunft! Irgendwie herzig aus heutiger Sicht. Statt der geplanten 1000 liefen trotz oder auch gerade wegen des ökosozialen Gegenwindes 1672 Stück des Turbo-Nullzweiers vom Band – die Kleinserie traf damit auch wirtschaftlich ins Schwarze. Auf diesem Fundament stehen heute nicht nur der sportliche Marken-Charakter, sondern auch die M-Serien als Urenkel dieses Kompakt-Sportlers – was den 2002 turbo wohl zu einem der erfolgreichen Rowdys aller Zeiten macht.

Daten & Fakten

R4, 8V, mechanische Kugelfischer-Einspritzung, 1990 ccm, 170 PS bei 5800/min, 240 Nm bei 4000/min, wahlweise Vier- oder Fünftgang-Ge­triebe, Hinterradantrieb, vorne Einzelradauf­hängung mit Querlenkern und Federbeinen mit Stabilisator, hinten Einzelradaufhängung an Schräglenkern und Schraubenfedern, Stabilsator v. und h., 40 Prozent-Sperrdifferenzial; Scheibenbremsen v, Trommeln h, L/B/H 4220/1620/1410 mm, Rad­­stand 2500 mm, Spur­weite v/h 1375/1362 mm, Wende­kreis 10,4 m, Reifen­di­mension 185/70 VR 13, 4 Sit­ze, Leergewicht 1125 kg, Gewichtsverteilung v/h 55/45, Tankinhalt 70 l, 0–100 km/h 7,0 sec, Spitze 211 km/h, Ver­brauch (Werk) 9,7 l/100 km, Praxis-Ver­brauch ca. 16 l/100 km

1973: im September Vorstellung des 2002 Turbo auf der IAA in Frankfurt; 1975: Einstellung der Produktion, Produktionsstart der der ersten 3er-Reihe (E21)

1672

mit Turbo: keine; als Sauger Alfa Romeo Alfetta, Ford Capri 3000, Lancia Beta Coupé, Triumph Dolomite, Toyota Celica GT